Überleben in der Wildnis – als Trapper in der kanadischen Tundra.
Die Bandscheiben müssen es aushalten, wenn sich der Motorschlitten jaulend durch die verschneite Tundra quält. Es ist ein ständiges Rackern und Schuften über hohe Wurzeln und kleine Baumstämme, die oftmals erst zu erkennen sind, wenn man sie schon unter den Kufen hat. Nur „full speed“ kann man über die Bäche brettern, auf denen immer Wasser steht, weil der Druck des arktischen Eises zu groß ist. Dort hängen zu bleiben, wäre im Hochwinter des Yukon Territory eine schlichte Katastrophe.
Im Morgengrauen haben wir den Dempster Highway verlassen und sind auf dem Weg zur Hütte von Doris und Stuart Macalister, irgendwo in der endlosen Ebene von Eagle Plains. Längst haben meine Muskeln jeden Widerstand aufgegeben, schmerzen die Arme vom Steuern dieses Mopeds auf Kufen. Ein eisiger Wind beißt ins Gesicht, der ohne Wollmaske nicht zu ertragen wäre. Dabei dürfte es mal gerade minus 35 Grad sein, ganz normal für einen Wintertag im Norden Kanadas. Und sichtlich locker fahren Doris und Stuart voraus, werfen gelegentlich einen Blick nach hinten, ob ich noch da bin. Wer an der Spitze fährt, muss den Weg durch das bockige Gelände spuren. Früher zogen die Hunde den Schlitten lautlos über den Schnee, doch längst verpestet der schnellere Zweitakter alle kalten Winkel dieser Erde. Die Tradition der Huskies ist unrentabel geworden, weil sie das ganze Jahr etwas fressen wollen.
Doch der Spürsinn der Hunde haben viele Menschen im Outdoor gerettet, denn wer hier verloren geht, hat leider Pech gehabt. Bei Temperaturen bis minus sechzig Grad überlebt man keine Nacht im Freien. Die winterliche Tundra erschreckt mit ihrer Weite und ihrer Stille, schnell kann diese grenzenlose Freiheit zum Alptraum werden. Da zeigt sich, wer die innere Kraft hat, ungezähmte Natur und grausames Wetter als ein Geschenk des Himmels zu sehen. Wenn die Schneestürme wüten, ist die Ebene nach wenigen Stunden unter einer Decke samtweicher Flocken verschwunden. Jede Kontur hat sich aufgelöst.
Endlich ein Halt, wir haben die Trapline, dem Fallenweg, erreicht. Heute kontrolliert Stuart die Fallen ein letztes Mal, denn Ende Februar ist die Saison zu Ende und die Drahtgehäuse müssen abgebaut werden. Meist sind es Marder, die dem Köder nicht widerstehen konnten und nun als tief gefrorene Fellbündel in den Zweigen hängen.
Am Ende der Trapline liegen zwanzig Tiere in einem Anhänger. Nun gibt Stuart so richtig Gas und saust über den verschneiten Whitestone River. Auf einer Lichtung, eingerahmt von tief verschneiten Bäumen steht plötzlich eine Hütte. Auf der Wäscheleine hängt ein Karibu-Fell zum Trocknen, das durch die Kälte steif wie ein Brett geworden ist. Daneben lagern selbst gemachte Schneeschuhe. Hier ist der Zweitwohnsitz von Doris und Stuart. Traumstation für jeden Aussteiger, und sei es nur für ein paar Wochen. Ein großer Raum, hinten in der Ecke das Bett, daneben der Küchenschrank und der Esstisch, und gegenüber ein kapitaler Ofen. Auf 20 Quadratmetern alles, was man zum Leben braucht.
Rasch wird angeheizt und schon bald kriecht ein wenig Wärme in den Raum. Die ersten selbst gedrehten Zigaretten werden angezündet. Dann geht Stuart hinunter zum Fluss und hackt ein Loch durchs Eis. In einem Eimer bringt das Teewasser und zum Waschen muss es auch genügen.
Inzwischen ist Doris zum Cache-House hinaufgekrabbelt. Die Speisekammer in der Wildnis sitzt auf einem zehn Meter hohen Pfeiler, damit Bären und Marder nicht über die Vorräte herfallen. Dort oben stapeln sich Lachse und Karibufleisch, die im Spätsommer eingelagert wurden. Der erste Forst hat dann die Konservierung übernommen. So müssen die Steaks in der Pfanne auftauen, dazu gibt es das indianische Brot Bannock und eingekochte Preiselbeeren, die in der Tundra fast die Größe von Himbeeren erreichen.
Vor fünf Jahren haben sich die Macalisters ihren Lebenstraum erfüllt. Sie fanden diesen Platz am Whitestone River und zimmerten sich Hütte und Einrichtung aus den Bäumen von nebenan. Eher vorsichtig waren ihre ersten Schritte in die Wildnis, denn schon viele Jack Londons sind an der Einsamkeit verzweifelt oder waren am Verhungern, weil ihnen nichts vor die Flinte kam. Die beiden wohnten zunächst in einer Hütte in der Nähe der Stadt Whitehorse und wagten dann den Sprung in die große Einsamkeit. Stuart, ehemals Farmer aus British Kolumbien, wollte immer im hohen Norden leben und fand in Doris die ideale Partnerin. Für sie, eine Indianerin vom Stamme der Gwich’in, war es eine Rückkehr zu ihren Wurzeln. Seit Menschengedenken lebt man hier vom Fallenstellen, doch seit mit Pelzen kein Geld mehr zu machen ist, fehlt das Interesse an dem harten Job im Hochwinter. So hat Doris das Fallenrecht ihres Stammes in die Ehe gebracht, eine Mitgift von rund 300 Kilometern auf beiden Seiten des Dempster Highway. Sechshundert Marderfelle waren die Ausbeute der letzten Saison. Wie Kaminholz aufgestapelt, warten sie auf die Auktion in Vancouver, das Stück wird sechzig Dollar bringen.
Immer lehnt die Winchester griffbereit in der Ecke, denn gelegentlich werden Bären von den Vorräten angelockt oder ein Elchbulle lässt seinen Frust an der Haustür aus. Doch Stuart hat es geschafft, in der Wildnis zu überleben. Und Doris hat noch von ihrer Mutter und Großmutter gelernt, wie man mit Beeren und Blättern überlebt. Hier zu wohnen heißt wochenlang ohne Fernsehen, Zeitung oder Telefon auszukommen. Nur Bücher verkürzen die langen Winternächte. Einzig ein Funkgerät steht auf dem Tisch, für den Notfall.
Doch gelegentlich lässt sich die Sehnsucht nach einer heißen Dusche oder nach einem Bier am Tresen nicht mehr verdrängen. Dann wird der Motorschlitten angeworfen und in vier Stunden sind die beiden im Eagle Plains Hotel, der einzigen Tankstelle, dem einzigen Motel und der einzigen Bar in einer riesigen Region. Es ist der Treffpunkt für alle, die auf dem Dempster Highway entlang fahren, um im Winter Heizöl und Benzin bis zum Eismeer bringen. Einige Trucker lehnen am Tresen, oftmals warten sie tagelang, bis sich endlich die Stürme gelegt haben und gewaltige Schneeräumer den Highway wieder befahrbar machen können. Draußen blasen die Lastwagen ihren Dieselgestank in die Luft, wegen der Kälte dürfen die Motoren nicht abgestellt werden. In dieser Bar hatte ich Doris und Stuart im letzten Winter kennen gelernt, als die Blizzards jedes Weiterkommen unmöglich machten und mir dieses Hotel wie ein Wink Gottes erschien.
Dagegen verbringen Doris und Stuart die meiste Zeit in ihren „cabins“, Sommer wie Winter. Nur manchmal fahren sie ins sieben Stunden entfernte Whitehorse. Zum Friseur und in den Supermarkt für Mehl, Reis und Tee. Nach vielen Wochen in der Tundra ist die kleinstädtische Hektik wie ein kleiner Schock.
Morgen fahren die beiden weiter zu ihrem nächsten Cabin und zur nächsten Trapline. Mir droht eine Rückkehr auf dem „Skidoo“, wenn der Pilot die Hütte nicht findet. Doch plötzlich hängt ein Brummen in der Luft, dann folgt die Premiere für den Whitestone River als Landebahn. Der Schnee fliegt in weißen Fahnen hoch, als das Flugzeug aufsetzt. Irgendwo im endlosen Weiß des Yukon Territory.
Dagmar Kluthe
Erschienen in
© Fotos Udo Bernhart