Reisebericht


In der Castagniccia lebt die Seele Korsikas


Veröffentlicht am 07.09.2007 von Dagmar Kluthe in der Kategorie Europa.
Schlagworte: Einsamkeit, Heimat, Insel, Stille, ursprünglich.


Korsika 4

Wie Vogelnester kleben die winzigen Dörfer an den Berghängen und sind oftmals nur durch kleinste Straßen zu erreichen. Doch ohnehin empfängt dem Besucher meist eine Atmosphäre der Verlassenheit und Stille, als würde hier kein Mensch mehr leben. Da haben die schmucklosen Häuser aus den alten Granitsteinen etwas sehr Abweisendes, denn sämtliche Fensterläden sind geschlossen und häufig hängen noch dicke Ketten an den Eingangstoren. Dieses Bild könnte für so manche Landschaft im Innern Korsikas gelten, doch die Castagniccia ist etwas Besonderes. Die endlosen Kastanienwälder geben dieser rauhen bergigen Gegend viel Charmantes, umschmeicheln die Felsblöcke und nehmen ihnen die gebieterische Ausstrahlung. Castagniccia heißt Kastanienwald auf korsisch, und diese Region liegt rund um den 1700 Meter hohen San Petrone im Osten der Insel, rund eine Autostunde südlich von Bastia. Nur ein Katzensprung von dem quirligen Strandleben entfernt, trifft man hier auf eine vergessene Gegend, wo es nur ganze wenige schmale Straßen gibt, doch eine Begegnung mit einem Auto ist ohnehin eine Seltenheit. So bleibt Zeit für eine Landschaft aus kapitalen Bäumen, von denen viele ein halbes Jahrtausend alt sind und ihre knorrigen Äste beinahe drohend in den Himmel strecken. Noch bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts lebten hier viele Menschen, aber die Katastrophe der Landflucht hat auch die Castagniccia getroffen wie alle Regionen im Innern Korsikas. Doch seit einiger Zeit gibt es ein Umdenken, denn auf der Suche nach ihrer Identität kommen die Korsen in die einstige Heimat ihrer Familien zurück.

Korsika 3
Man sagt, die Seele Korsikas lebe in der Castagniccia. Alle Bergtäler dieser Insel haben Geschichten zu erzählen, denn sie boten Schutz vor Piraten und fremden Soldaten, die die Küsten unzählige Male heimgesucht hatten. Doch in der Castagniccia haben die Korsen ihr Selbstverständnis gefunden, denn diese Gegend war das Zentrum des Unabhängigkeitskampfes im 18.Jahrhundert, und so ist die Fahrt von Morosaglia nach Moriani-Plage eine Reise durch einige Höhepunkte der ohnehin turbulenten Geschichte Korsikas.
Es ist Mitte November und mit der Sonne erglühen die Kastanienwälder zu einem Farbenmeer in Gelb und Rot mit unzähligen Schattierungen. Und darüber wölbt sich der Himmel in einem Blau, das so makellos nur in den Monaten mit den kalten Nächten sein kann. An den Straßenrändern türmen sich die stacheligen Schalen der Kastanien und bilden mit dem toten Laub viele matschige Haufen, die von ganzen Horden verwilderter Hausschweine durchwühlt werden.

Besonders in der Castagniccia hatte die Kastanie das Leben bestimmt und ist heute zum nationalen Symbol geworden. Für drei Generationen vergessen, besinnt man sich nun wieder auf den Baum, der auf Korsika Geschichte geschrieben hat.
Ursprünglich betrieben die korsischen Bauern Viehzucht und etwas Getreideanbau. Doch die Genuesen, die seit dem Ende des 13. Jahrhunderts die Insel beherrschten, hatten schon auf dem Apennin das Wertvolle der Kastanie erkannt und befahlen die Anpflanzung dieser Bäume. Die Edelkastanie ist eine Verwandte der Buche und stammt aus Kleinasien. In der Antike wurde sie über das Mittelmeer bis nach Deutschland und England verbreitet, jedoch reifen ihre Früchte nur im warmen Klima. Im mediterranen Korsika wachsen die Bäume auf einer Höhe zwischen vierhundert und achthundert Metern. Im Mai verwandelt sich die Castagniccia in ein Blütenmeer, und im Spätherbst beginnen die Ernten. Um 1770 waren siebzig Prozent des bebauten Bodens mit Kastanienwäldern bedeckt und rettete die einst dicht bevölkerte Region in harten Wintern vor dem Verhungern. Denn die getrockneten Früchte des „Brotbaumes“ verarbeitet man zum Mehl des „Farine de la Châtaigne“, das in vielen Gerichten der korsischen Küche verwendet wird. Mit der Kastanie wurden die Bauern reich, denn sie diente als Tauschmittel für Öl, Zitrusfrüchte und Wein. Aus ihrem Holz wurden begehrte Möbel hergestellt.
Der Wohlstand hatte aus der Bevölkerung selbstbewußte Korsen gemacht, und so reifte in der Castagniccia der virulente Geist des Widerstandes gegen die Fremdherrschaft der Genuesen. Begünstigt durch den Niedergang der ligurischen Stadtrepublik regten sich die patriotischen Unruhegeister und forderten die Unabhängigkeit. Als würden in diesen Häusern mit ihren Mauern aus behauenem Granit und ihren Dächern aus Steinplatten besonders harte Seelen geboren, haben die Menschen aus der Castagniccia die kurze Periode des korsischen Unabhängigkeitskampfes von 1729-1769 bestimmt. Und diese Epoche ist untrennbar mit dem Namen des Pasquale Paoli verknüpft.
An diesem Nachmittag in ein warmes gelbes Licht getaucht, steht seine Statue am Ortseingang von Morosaglia. Er ist der unumstrittene Held Korsikas. Während bei Napoleon die Haltung der Einheimischen oftmals ambivalent sein kann, gibt es bei ihm keinen Zweifel. Er ist einer von ihnen. In Morosaglia wurde er 1725 geboren, Da seine Eltern die schwelende Unabhängigkeitsbewegung unterstützt hatten, mußte die Familie die Insel verlassen. Paoli studierte Recht und politische Wissenschaften in Neapel, das zu jener Zeit ein Zentrum der Aufklärung war. Mit den Werken von Plutarch, Montesquieu und Machiavelli bereicherte er seine umfassende klassische Bildung. Goethe, der ihm damals begegnete, schilderte ihn als „einen blonden Mann voller Anmut und Freundlichkeit“. Paoli trat in die Armee des Königs von Neapel ein, doch er hatte immer Kontakt zu den Ereignissen in der Castagniccia. 1753 holte man den jungen Soldaten in seine Heimat und wählte ihn zum „General der korsischen Nation“. Die Festung Corte im Zentrum der Insel wurde zur Hauptstadt erklärt, dort tagten die Consultas, die einem Parlament vergleichbar waren. 1756 gründete Paoli die erste Universität Korsikas, und sie ist bis heute die einzige akademische Lehranstalt geblieben. Nur ganze vierzehn Jahre dauerte die allererste Demokratie Europas, denn die Zeit war gegen den aufgeklärten Regenten. Obwohl von allen intellektuellen Köpfen bewundert, konnte er seine Politik der Gewaltenteilung nicht durchsetzen. Da waren die mächtigen westkorsischen Adelsfamilien, die keineswegs von ihren Rechten abrücken wollten. Aber als Verhängnis für die junge Demokratie entpuppte sich die Verpfändung der Insel an Frankreich, die Herrschaft Genuas war unweigerlich zu Ende. Die streitbaren Korsen erklärten Paris den Krieg, doch die Schlacht bei Ponte Nuovo im Norden der Castagniccia wurde zu einer fürchterlichen Niederlage für die Unabhängigkeit. Paoli mußte ins Exil gehen, auch seine Rückkehr nach 21 Jahren war zum Scheitern verurteilt, und Korsika wurde endgültig dem französischen Staat einverleibt. Paoli starb 1807 in England, erst neunzig Jahre später hatte man seinen Sarg dem Familiengrab in Morosaglia beigesetzt. Auf einer Anhöhe in der Ortsmitte steht sein Geburtshaus, das nun ein Museum geworden ist. Ein Gebäude wie alle anderen auch. Grau und unscheinbar. Und am Dienstag geschlossen. Allerdings steckt der Geist der Widerspruchs noch immer in diesem Dorf, denn jemand hat die französische Bezeichnung am Ortsschild überpinselt, damit nur mehr der korsische Name Merusaglia zu lesen ist.
Wenige Kilometer hinter Morosaglia, am fast tausend Meter hohen Paß des Col de Prato führt eine ungewöhnlich steile Stichstraße hinunter nach La Porta. In diesem Örtchen steht die Barockkirche Saint-Jean-Baptiste mit ihrem freistehenden Campanile. Diesen Ensemble gehört zu den Marksteinen der barocken Baukunst auf der Insel. In den einstmals reichen Gegenden wie der Balagne im Westen, der östlich gelegenen Castagniccia und besonders in der Altstadt von Bastia sieht man diese reich geschmückten Gotteshäuser. Sie wurden als eine Art Gegenwehr zur gefürchteten Reformation gebaut und überraschen durch ihren starken Kontrast zwischen dem schlichten Äußeren und der Pracht im Kirchenraum.

Korsika 2
Durch dichte Kastanienwälder geht es wieder den Berg hinauf und die Straße schlängelt sich nun unterhalb des San Petrone vorbei, und hinter Croce liegt der Konvent von Orezza.
Dieses Franzikanerkloster aus dem 18. Jahrhundert war der Ort der heimlichen „consultas“, hier wählte man Paoli 1755 zum Regenten. Während der französischen Revolution wurde die Abtei geschlossen und danach diente sie als Stall und Waffenlager. Eine Bombe im Zweiten Weltkrieg ließ nur mehr eine imposante Ruine zurück, deren Mauerwerk heute schon vielfach ein Opfer der dornigen Büsche der korsischen Macchia Korsikas geworden ist. Und noch ein Kloster ist eng mit der Geschichte des Freiheitskampfes verbunden, das etliche Kilometer weiter südlich in dem Ort Valle d‘Alesani steht. Darum rankt sich eine eher kuriose Episode, denn in den Zeiten politischer Wirrnis segelte ein Deutscher nach Korsika, um dort König zu werden. Es war Theodor Baron von Neuhoff, der 1694 in eine verarmte westfälische Adelsfamilie geboren wurde und sich als Glücksritter durch das Leben schlug. Durch Zufall hörte der Deutsche von der korsischen Unabhängigkeitsbewegung, die verzweifelt militärische Unterstützung suchte. In der Hoffnung auf Geld und Würden versprach Neuhoff die Hilfe ausländischer Mächte. Die Gegenleistung sollte der Thron eines Königs von Korsika sein, dem man wohl zähneknirschend zustimmte. Tatsächlich landete der Baron mit Gewehren und Soldaten am 12. März 1736 in Aléria an der Ostküste Korsikas.
Ferdinand Gregorovius, der bekannte Reiseschriftsteller des 19. Jahrhunderts hat seine Ankunft beschrieben: „er war angetan mit einem langen Kaftan von scharlachroter Seide, mit maurischen Pantalons und gelben Schuhen, ein spanischer Hut mit einer Feder bedeckte sein Haupt, im Gürtel von gelber Seide steckten ein paar reich ausgelegte Pistolen, ein Schleppsäbel hing an seiner Seite, und in der rechten Hand hielt er einen langen Zepterstab.“
Im Kloster Valle d’Alesani proklamierte man den Deutschen zum König Theodor I. und seine Residenz wurde der Bischofspalast von Cervione, ganz im Süden der Castagniccia. Zunächst ging es auch aufwärts mit der Freiheitsbewegung, denn der neue Herrscher holte jüdische Investoren auf die Insel, um die Wirtschaft anzukurbeln. Mit Erstaunen betrachtete Genua das Treiben auf der Insel und fürchtete erst die Machenschaften fremder Mächte, doch schnell scheiterte das Königtum an nicht erfüllten Versprechungen Neuhoffs. Als Priester verkleidet, mußte er am 11. November die Insel verlassen und starb völlig verarmt in London. Das bisher einzige Königreich auf Korsika hatte nur sechs Monate existiert.
Von der Ruine von Orezza ist das ehemalige Heilbad gleichen Namens gar nicht zu sehen. Tief unten im Tal werden die Gebäude von Eaux d’Orezza völlig von den dichten Kronen der Kastanien verdeckt. Schon in der Antike schätzte man das eisen- und karbonathaltige Wasser, und die Heilquellen wurden Ende des 19.Jahrhunderts zu einem Treffpunkt der feinen Gesellschaft, die amüsante Unterhaltung mit etwas Gesundheit verbinden wollte. Seit kurzem hat man zumindest die Anlage zum Abfüllen des Mineralwassers wieder instand gesetzt.
Nun führt der Weg unweigerlich erneut nach oben und hinter etlichen Kurven beherrscht die weiße Fassade der Barockkirche von Piedicroce diese Landschaft aus bunt gefärbten Bäumen. Es ist der größte Ort in der Castagniccia, doch wie leer gefegt sind die Straßen. Lediglich ein paar geparkte Autos zeigen, daß irgendwo Menschen leben müssen. Von Piedicroce aus gut zu sehen, hat sich ein weiteres Örtchen auf eine Felsterrasse geklemmt. Es heißt Carcheto und ist die Heimat von Jean Claude Rogliano.
Eigentlich lebt und arbeitet der Schriftsteller in Bastia, doch mit dem Erfolg seiner Romane zog es ihn in dieses Dorf zurück, wo er geboren wurde. Viel mehr als in der geschäftigen Hafenstadt fühlt er sich in der Castagniccia daheim, und vor etlichen Jahren konnte er drei halbverfallene Gebäude unterhalb der Kirche kaufen. Nach der Renovierung haben die Räume viel von der Atmosphäre dieser Kulturlandschaft eingefangen. Da sind die schweren Türen aus altem Kastanienholz und die dunklen Balken an den Zimmerdecken, zeigt Rogliano mit Stolz auf seine rustikalen Schränke und Kommoden, deren die Schubladen sich nur mehr ächzend öffnen lassen. Hier hätten die Menschen eine sehr enge Beziehung zu ihren Wäldern gehabt, erzählt er, denn man wäre in einer Wiege aus Kastanienholz geboren worden und lebte dann in Häusern, deren Möbel aus diesem Holz stammten. Immer sei es ein Geben und Nehmen gewesen. „L’homme et l’arbre“, weil der Mensch den Baum schützen mußte, bis der Baum den Menschen schützen konnte. Immerhin brauche eine Kastanie fünfzehn Jahre, bis sie die ersten Früchte trägt.
Mit ausdrucksvollen Gesten eines Südländers umschreibt Rogliano seine Worte, sprudeln die Sätze aus ihm heraus. Besonders wenn es um die Politik und das Selbstverständnis der Korsen geht. Denn wer aus der Castagniccia kommt, ist natürlich Patriot im Sinne Paolis. Die Traditionen Korsikas müssen wieder gepflegt werden, dazu gehöre neben der Sprache auch die Landschaft. Nach den beiden Weltkriegen hatten die Menschen das Inselinnere verlassen und sich ein neues Auskommen an den Küsten oder im Ausland gesucht. Ganze Landstriche sind verödet und die Kulturen der Kastanienhaine verwildert. Nun wurden in den letzten Jahren viele hundert Hektar an Wäldern von der Macchia gesäubert, weil nur ein gepflegter Baum eine Ernte einbringt. Da mußten die halb zerfallenen Mühlen wieder instand gesetzt werden, aber außer ein paar alten Männern wußte niemand mehr, wie man Kastanienmehl herstellt. Da gibt es wieder Interesse für die traditionelle Küche der „Cucina Corsa“, die die alten korsische Rezepte neu belebt, und darin spielen die Maronen eine wichtige Rolle. Nun werden im Inselinnern zahlreiche Feste und Ausstellungen rund um die Kastanie veranstaltet und überall drängeln sich die Neugierigen. Vor allem vor den Ständen, wo ein würziger Rauch aufsteigt, denn dort grillt man die „Figatelli“. Das sind Bratwürste aus Innereien und sie gehören zu den korsischen Spezialitäten, denn die halbwilden Schweine haben mit Vorliebe Kastanien gefressen.

Korsika 1
Mit der Renaissance der Castagniccia kommen die Menschen zurück, werden viele Häuser renoviert und vor dem Verfall bewahrt. Auch so mancher Fremde vom „Kontinent“, aus Paris und Südfrankreich findet Gefallen an dieser urwüchsigen Gegend und wenn es nur für etliche Monate im Sommer ist. Eine gewaltige Kastanie steht an der steilen Straße zu dem Haus von Rogliano. Mehr als fünfhundert Jahre alt dürfte der Baum sein und niemand kann diesen mächtigen Stamm mit seinen starken Ästen übersehen. Als wäre er ein Mahnmal der Castagniccia.

Dagmar Kluthe

Erschienen in der

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© Fotos: Dagmar Kluthe

  1. Französisches Fremdenverkehrsbüro: Maison de la France, Zeppelinallee 37, 60329 Frankfurt am Main, Tel: 069 97590494
  2. Auf Korsika Info Tourisme 0033495/510000, Internet www.visit-corsica.com, e-mail: info@visitcorsica.com
  3. Für die Fahrt auf der D71 von Morosaglia nach Moriani-Plage sollte man einen Tag einplanen.
  4. Wer die Castagniccia hautnah erleben will, kann bei Jean Claude Rogliano übernachten. Tel 0033495/312989 oder 358203.
  5. Korsika Buch

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