An Trachtenjanker und Dirndl erkennt man die Fremden, denn eigentlich beherrscht das mondäne Schwarz die Straßen von Bozen. Da gehört die Sonnenbrille zum Accessoire Nummer eins, unabhängig von Wetter und Tageszeit, klingelt immer irgendein telefonino. Man betont das Südländische, liebt den lässigen Auftritt. Das kann der Espresso im Stehen sein und das abendliche Flanieren durch die Lokale. Wie durch die Innenstadt von Bozen, längst sind die Zeiten des Discos auf dem Land abgehakt, gehören nun die Lokale unter den Lauben zu den nächtlichen Musts.
Mit Attila hatte es begonnen, der ein ehemaliges Forsthaus zu seinem Café Latino umbaute. Und nun stehen an jedem Wochenende die Leute bis auf die Straße, fliegen deutsche und italienische Wortfetzen inmitten hämmernder Musik durch den Raum. Gut zwanzig Klagen wegen Ruhestörung liegen bei Attila auf dem Tisch, weil sein Lokal inmitten von Wohnblocks liegt. Doch das nimmt der Chef in aktueller Kopfglatze gelassen und meint eher: „Bozen muss noch dynamischer werden“. Schon sprechen die Einheimischen von einem Bermuda-Dreieck, weil man sich im Zentrum nur um die eigene Achse zu drehen braucht, um schon vor der nächsten Kneipentür zu stehen.
Da fließt das frisch gebraute Bier aus kupfernen Kesseln im Hopfen & Co, und dann steht man mit dem Glas im Türrahmen, um die Flaniermeile der Goethestraße im Blickfeld zu haben. Wer keine Lust für Tiroler Bier verspürt, der wandert zum Pogue Mahones in die dunkle Erbsengasse, hier läuft das Guinness mit seinen müden Schaum aus dem Hahn und der Irish Coffee dürfte mühelos jeden Anfall von Müdigkeit ersticken. Es ist eine Kneipe mit mehreren kleinen Stuben, wo Bücher in Regalen stehen, die man studieren könnte, falls man sich langweilen sollte. Irish Pub auf südtirolerisch. Hier trifft sich die junge Szene und es ist meistens so voll, dass sich die Leute nur mehr am Tresen vorbei schieben, muss die Party auf der Gasse stattfinden, weil drinnen keine Maus mehr hineinpasst. Um Mitternacht geht auch im Weinlokal „Exil“ die Post ab, dem Mittelpunkt der studentischen Jungspunte inmitten von abgewetztem Hawelka-Ambiente und mit Blick auf den romantischen Kornplatz. Seit wenigen Monaten eröffnet und ungeheuer im Trend ist Soul Kitchen, wegen der Live-Musik treten sich dort die Nachtschwärmer gegenseitig auf die Füße, obwohl das Lokal an der neuen Messe und fern des Zentrums liegt.
Nun ist es wieder chic geworden, in der Altstadt von Bozen zu wohnen. Einst das pulsierende Herz der mittelalterlichen Kaufmannsstadt, sind die Laubenhäuser mit ihrem eigenwilligen Grundriss “ ich hab‘ kaa Haus, ich hab‘ eine Wurscht“, zum Trend geworden. Damals wie heute sind sie das Aushängeschild von jenen, die es geschafft haben und es sich leisten können. Nun wird renoviert, beginnen die grauen Gemäuer in frischer Farbe zu glänzen, kehren die Städter von ihren Landhäusern auf dem Ritten oder aus Jenesien zurück. Denn nichts haben die Lauben von ihrer mittelalterlichen Atmosphäre verloren, krumm und bucklig winden sie sich durch die Innenstadt, bieten am Abend ungeheuer viel Ambiente, wenn das gelbe Licht der Straßenlaternen auf das Kopfsteinpflaster fällt. Doch ließ sich früher um neun Uhr abends kein Mensch mehr blicken, waren alle Gasthäuser geschlossen, so ist heute Leben im nächtlichen Bozen.
Und aufgeweckt hat sie der Luis Durnwalder. „Mir sain wieder jemand“, ein keckes Selbstbewußtsein liegt in der ehemals verschlafenen Hauptstadt Südtirols, mit Macht pumpt die Politik des pragmatischen Landeshauptmannes das Blut in die Adern einer weltoffenen Zukunft. Endlich möchte man die dunkle Geschichte der Stadt zu den Akten legen, als während des Faschismus Tausende von Italienern unter Zwang angesiedelt wurden und die Harmonie unter den Boznern für Jahrzehnte zerstörte. Nun will man die vertane Zeit der ethnischen Grabenkämpfe wieder gut machen, in der sich die Nachbarprovinz Trentino mit Universität und Museen profilierte. Volle Kassen und politisches Einverständnis erlauben, der Stadt ein weltläufigeres Gesicht zu geben. Der erste Schritt ist längst getan, der kleine Flughafen wurde an den Rest der Welt angebunden, in etwas mehr als einer Stunde kann man in Rom oder Frankfurt erreichen. Die einst lauten Proteste werden zunehmend leiser, neuerdings treffen sich die Südtiroler im Flugzeug.
Vorbei mit der eigenen Nabelbeschau, ein fesches Gesicht im neuen Europa ist gefragt. Da musste ein Universität her, und als Schmankerl wird in Bozen in drei Sprachen gelehrt, neben deutsch und italienisch gehört auch das Englische ins Programm. Noch kommen die meisten Studenten aus dem Umland, doch die Zukunft läßt hoffen, zumal namhafte Dozenten für die Vorlesungen eingeflogen werden und die Semester fast kostenlos sind. Und eine hochmoderne Akademie für Design gibt es nun in der Stadt an Eisack und Talfer, an begabten Nachwuchs mangelt es im Land der Holzschnitzer ohnehin nicht, prallen doch in Südtirol nordisches Organisationstalent und romanischen Sinn für Ästhetik aufeinander.
Die erfolgreichen Südtiroler haben längst das Beste davon vereint, parlieren mit südländischer Gestik und handeln in kühler Effizienz. Es sind gewitzte Geschäftsleute, die Bodenständigkeit mit weltoffenem Denken verbinden wie die Oberrauchs, die erfolgreichste Familie zwischen Brenner und Salurner Klause. Von Fernsehkameras verfolgt ist die Bergausrüstung der Firma Salewa des Heiner Oberrauch die Eiger Nordwand hinaufgeklettert, ist überall das Firmenetikett zu sehen, wenn es um Hochleistung in den harschen Ecken der Welt geht. Das Geschäfte machen liegt ihnen im Blut, dem Bruder Georg Oberrauch gehören unzählige Sportgeschäfte bis weit hinein nach Italien, doch am Beginn des Imperiums stand der Loden. Nachdem schon alle Bayern einen Janker hatten, kam Vater Heinrich Oberrauch auf die Idee, den italienischen Bergurlaubern die grünen Mäntel zu verkaufen, die nun Statussymbole in Rom und Mailand sind.
Auch Selva machte sich immer italienische Kreativität zunutze und siedelte seine Möbelfabriken in Verona an, doch verhandelt wird in Bozen. Die Kunden sitzen überall auf der Welt, man richtet Hotels im arabischen Medina oder in Moskau ein, gehört zu den Lieferanten des Londoner Kaufhauses Harrods. Für den 31jährigen Philipp Selva stellt sich die Frage nach deutsch oder italienisch schon lange nicht mehr, er sei ganz einfach Europäer. Und dass in seiner Heimatstadt endlich etwas passiert, gefällt ihm. Wie den meisten Boznern und sie ertragen Lärm und Staub, überhören das Dröhnen der Abrissbirnen und das Schaben der Bagger. Als hätte die Mumie des Ötzi alle wachgerüttelt, werden nun Museen aus dem Boden gestampft, dort wo andere Städte mit den Etats hadern. Merkantilmuseum, Speckmuseum, Naturkundemuseum. Und auch die Moderne Kunst bekommt ein neues Haus an den Talferwiesen. Denn weil die Universität hinein will, müssen die Bilder und Skulpturen ausziehen. Erst vor zehn Jahren ins ehemalig Hospital eingezogen, geht der zeitgenössischen Kunst in den renovierten Krankensälen ein einzigartiger Rahmen verloren. Doch da es am Geld nicht mangelt, wird das kommende Gebäude viel größer, viel schöner.
So eine rasche Entscheidung hätte dem Theater gut getan, zwanzig Jahre lagen die Pläne in der Schublade und bis alle Streitereien geschlichtet waren, ist so mancher Fürsprecher ist darüber gestorben. So entstand ein heller Klotz der Postmoderne am Verdiplatz, hat die Zeit die Architektur überholt. Eingezwängt durch eine vierspurige Straße, muß der Musentempel auf seinen Vorplatz verzichten, fehlt nun der Laufsteg für Kleider und Juwelen. „Weil es keine Städter sind, die das Land regieren“ lautet die Antwort von Stadthistoriker Helmut Rizzolli, die darauf anspielt, dass der Durnwalder ein Bauernbub aus dem Pustertal war. „Eine Kathedrale in der Wüste“, unken die Kritiker, denn gut achthundert rote Samtsessel warten darauf, aus den Boznern ein Volk der Theatergeher zu formen. Dabei holt die Stadt an Talfer und Eisack mal wieder das deutsch-italienische Gerangel ein: die ewige Suche nach dem Proporz, diktiert vom Gesetz der Autonomie. Bekommen die Italiener etwas, wollen es auch die Deutschen haben. Schon längst gibt es ein erfolgreiches Teatro stabile, allein der deutschsprachige Teil muss noch mit dem neuen Intendanten Emmanuel Bohn das Laufen lernen und neben zweihundert Amateurtheatern sein Publikum finden.
Doch ungeachtet jeder Aufbruchsstimmung geht man noch immer zu Mittag ins „Restaurant zur Kaiserkron“, wo die Knödel und die Gnocchi auf der Speisekarte stehen oder kehrt beim „Vögele“ ein. Dort gibt es den legendären Stammtisch, wo die wichtigen Leute das Schicksal ihrer Stadt bereden. Immer von zwölf bis ein Uhr mittags, bei einem Glasl Roten, denn der Wein gehört zu Bozen wie das Amen in der Kirche. Mitten in der Stadt, an den Talferwiesen beginnen die Rebstöcke, und ziehen sich an allen Hängen hinauf. Schon vor Jahren hat so mancher Winzer den Puls der neuen Zeit begriffen, gehört für sie Europa zum Alltag. Der Wein habe viel für Bozen getan, meint Alois Lageder, einer der Großen in Südtirol und einer der wenigen, der den Sprung in amerikanischen Weinkarten geschafft hat. Nun basteln die Südtiroler an einer gemeinsamen Zukunft, bekommen die einheimischen Lagen wie Lagrein und Vernatsch bessere Trauben und elegantere Flaschen. Es ist ein Weg zurück zu den Ursprüngen, um sich von all den Chardonnays, Cabernets und Merlots dieser Welt abzugrenzen. Und mit dem dreissigjährigen Martin Foradori sorgt nun ein ganz junger Präsidenten für frischen Wind in den Südtiroler Winzerköpfen. Und dieser hält die Fahne seiner Heimat hoch, seine neue Kellerei in Tramin wurde von Südtiroler Architekten gebaut und Südtiroler Künstlern verziert, tragen seine Weinflaschen nur Etiketten, die von Einheimischen entworfen wurden. Auch ihn zieht es am Abend oft nach Bozen und schlendert durch die Lokale. Früher seien die Bürgersteige nach Geschäftsschluss hochgeklappt worden, erzählt Foradori und dann musste man für ein wenig Nachtleben bis nach Verona fahren.
Mag die Stadt Bozen auch vor Geschäftigkeit brummen, pünktlich um zwölf Uhr sausen die Rollläden herunter, kehrt eine unfassbare Stille ein, verplaudert man die Mittagszeit in der Bar oder im schattigen Garten des Laurin. Hier kommen alle vorbei, die Politiker vom Landhaus, die Geschäftsleute aus den Lauben. Sogar auf den Baustellen herrscht für kurze Zeit etwas Ruhe, „Bozen muß sich verschnaufen“.
Dagmar Kluthe
© Fotos: Udo Bernhart
Erschienen in “Abenteuer & Reisen”