Am frühen Morgen drückt der Pazifik seine Nebelbänke über das Häusermeer von Lima, nur vereinzelt tauchen die Konturen von Gebäuden auf und verleiht diesem Moloch ein melancholisches Gesicht. Dann kommt die Sonne und vertreibt die nassen Lappen, gibt den Blick frei auf den endlosen Strand, die Häuser und die verschneiten Anden. „Es war eine Traumstadt“ meint Katia wehmütig, aber nun würden zu viele Menschen in ihrer Heimat leben. Gut ein Drittel aller Peruaner wohnen in Lima und die Stadt kämpft ums Überleben. Ein tägliche Gratwanderung inmitten eines Verkehrschaos, verschmutzter Luft und viel Armut. Ein Schmuddelkind Lateinamerikas, eines von vielen. Doch die einstige Perle des spanischen Imperiums fordert den Besucher heraus mit ihrer Umtriebigkeit und schenkt Momente, die woanders nicht zu erleben sind.
Jede iberische Gründung beginnt an der Plaza Mayor, immer begegnen sich dort Klerus und Staat, auch in Lima steht der Palast des Präsidenten in Sichtweite der Residenz des Erzbischofs. Es ist das Zentrum der Stadt und alle kommen hier vorbei. Schuhputzer, Postkartenverkäufer, Taschendiebe, Touristengruppen, Zeitungsleser, Beamte. Als würden sie von Jirón de la Union ausgespuckt, dieser größten Fußgängerzone Limas, die über einen Kilometer bis zur Plaza San Martin reicht. Zahllose Modeläden, Zeitungskioske, Sportgeschäften, Schnellimbisse und Kinos kleben aneinander und eine unübersehbare Menschenmenge überschwemmt diese Straße. Man muss sich treiben lassen in der Woge aus Leibern, in diesem Durcheinander ringen Straßenmusikanten und Jongleure um Aufmerksamkeit, aber niemand schenkt ihnen Beachtung. Aber es liegt jene lateinamerikanische Leichtigkeit in der Luft, das Wort Stress scheint unbekannt zu sein. Gedanken an die Geschichten von Isabel Allende oder Mario Vargas Llosa, die Episoden der feinen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts beschrieben haben.
Wie elegant und verschwenderisch reich das koloniale Lima gewesen ist, zeigen noch etliche Häuser in der Altstadt. Wie das Casa Alaiga, das älteste Gebäude der Stadt. Dieses Aushängeschild kolonialer Architektur wird noch heute von den Nachfahren des Jeronimo Aliaga bewohnt, der 1532 zur Konquistadorentruppe von Pizarro gehörte Auch der Palast Torre Tagle begeistert mit seinen aus Holz geschnitzten Balkone und ihren Klappläden gegen die starke Sonne, den in Stein gehauenen Torbogen mit einem imposanten Holztor. Er wurde 1735 im andalusischen Mudejar-Stil gebaut und ziert heute den 20-Soles-Geldschein. Der Schatzmeister der spanischen Flotte war einst der stolze Besitzer und nun arbeiten dort die Beamten des Außenministeriums. Und gleich gegenüber liegt das Restaurant L’Eau Vive, das von französischen Nonnen geleitet wird. Erholsam ruhig und kühl ist es hinter den kolonialen Fassaden. „Du musst unbedingt suspiro a la limeña probieren“, Katia verführt mich zu diesem „Seufzer aus Lima“, einer Meringue mit Karamell gefüllt. Aber nun weiter in der glorreichen Geschichte Perus und als Hauptstadt besitzt Lima die besten Museen des Landes. Wie das Museo de Oro del Peru, lange Zeit auf der Liste der Musts Lateinamerikas, bis sich herausstellte, dass ein großer Teil der Exponate „fake“ waren. Vor kurzem wurde die Ausstellung neu eröffnet und nun sollen die gold bestickten Ponchos, die Ohrringe und Kolliers alle echt sein. Und noch immer scheinen die Vitrinen überzulaufen. Eigentlich interessieren sich nicht so viele Menschen für Keramik, aber das Museo Larco ist ein Besuchermagnet. Denn unter 50 000 Töpfen sind auch jene berühmten aus präkolumbischer Zeit mit erotischen Zeichnungen. Sehr detailliert wird gezeigt, wie man es im alten Peru getrieben hat. Nach soviel Museumsluft und Geschichte zieht es uns ans Meer, in den Stadtteil Barranco. Es ist das Bohèmeviertel vom Lima mit vielen Künstlerkneipen, Bars, und Restaurants am Strand. Den Sonnenuntergang wollen wir sehr romantisch erleben und fahren zur Posada del Mirador. Diese Bar hat eine Terrasse über den Klippen und mit Pisco Sour, dem peruanischen Cocktail, warten wir, bis die Sonne in den Pazifik plumpst. Mit der Dunkelheit kommt ein leichter Wind vom Meer, einfach nur sitzen bleiben. Aber das Cerviche lockt, ein typisches Gericht aus rohem Fisch, mit Zitrone und etwas Knoblauch mariniert, dazu Maiskolben und Süßkartoffel. Am schönsten zu genießen im Restaurant La Costa Verde, das direkt an der Playa Barranquito liegt. Dann ist es ein Uhr morgens, aber für die limeños beginnt nun erst die „beste Zeit des Tages“. Wie alle Südamerikaner sind sie ausdauernde Nachteulen und so manche Disco schließt erst im Morgengrauen. Uns zieht es in eine pena, ein Lokal mit Folklore-Musik und viele limeños gehen ins „las Brisas del Titicaca.“ Natürlich darf an diesem Abend „el Condor pasa“ nicht fehlen. Man vergisst Raum und Zeit und auch, dass der Flug nach Cusco morgens um acht Uhr startet.
Ein strahlend blauer Himmel liegt über der ehemaligen Inka-Hauptstadt, aber man spürt die scharfe Luft des altiplano. Cusco liegt auf 3326 Metern und da sind Kopfschmerzen und Kurzatmigkeit ein unvermeidliches Übel.
Zwei steinerne Herren verkörpern die Seele Cuszos. Da sind Pachacutec, der neunte Inka-Herrscher und die blendend weiße Statue des Cristo Blanco. Der eine steht in der Stadt und der andere blickt von oben herab, mit ausgebreiteten Armen, ähnlich jenem auf dem Corovado in Rio de Janeiro. Pachacutec ließ Cuzco im 12. Jahrhundert erbauen und dreihundert Jahre später waren die Spanier da. Die Inkas mussten Reich und Macht verloren geben und auf ihren heiligen Stätten wurden Kirchen gebaut. Prächtig geschmückt aus den legendären Goldvorräten der „Heiden“ und ein schwarzer Christus hängt über dem Altar. Um es den Indios leichter zu machen, an den neuen Gott zu glauben. Aber noch heute, im 21.Jahrhundert ringen die beiden um die Macht in den Herzen der Menschen. Wie bei Maria. Sie ist eine Quechua-Indianerin, eine Nachkomme der Inkas, und glaubt an die Pachamama, die Mutter Erde. In ihrer Wohnung in Cuszo hängt zwar ein Christus am Kreuz, aber in einer Ecke stehen die Opfergaben für die Pachamama. Etwas zu trinken und zu essen. Aus dem Fußboden lugt ein Stück blanke Erde empor. „wenn ich etwas trinke, geht der letzte Schluck an die Mutter Erde“, sagt Maria und schüttet etwas Wasser auf den Boden. Aber ihr Mann sei in den letzten Jahren so katholisch geworden und bei den hohen christlichen Festen oft tagelang verschwunden. Sein ganzes Geld hat er zusammen gekratzt, um dem Christus einen Rock zu stiften. Ein besonders kostbares Stück musste es sein, mit Perlenstickerei und vielen wertvollen Steinen. Alle Heiligen in Peru tragen Kleider und der Christus in einer wichtigen Kirche bekommt jeden Tag einen anderen Rock. Und nur ein Mann darf ihn wechseln. „Und was ist unter dem Rock?“, frage ich. „Eine schwarze Unterhose“, sagt Maria und macht ein ernstes Gesicht.
Als Hauptstadt des Inka-Reiches ist Cusco der Besuchermagnet Perus. Dabei dauerte das Reich der Sonne nur 330 Jahre, aber diese Kultur hat nichts von ihrer Faszination verloren. Auf der Plaza de Armas wehen zwei Flaggen, die rot-weiße von Peru und die regenbogenfarbene des Inkareiches. Beherrscht wird das Zentrum Cuscos von der imposanten Kathedrale, berühmt für ihre Gemälde der Cusco-Malschule. Es ist eine Melange der akademischen Malkunst Italiens des 17. Jahrhunderts und der Kreativität der indianischen Maler. So zeigt „Das letzte Abendmahl“ von Marcos Zapata ein gebratenes Meerschweinchen anstelle des Brots. Ein „cuy“ ist die Leibspeise der Indianer des Altiplano und wird nur an besonderen Tagen zubereitet. Auf diesem Bild trägt Saulus die Gesichtszüge von Francisco Pizarro. Im November 1533 erreichte der Spanier die Stadt Cusco und drei Jahre später gehörte das Reich der Inkas zur Vergangenheit. Längst waren ihre prachtvollen Bauwerke geplündert und zerstört, darunter auch der Sonnentempel Coricancha. Eine Klosterkirche der Dominikaner wurde auf diesen Ruinen gebaut, doch die Ausgrabungen haben die unglaubliche Baukunst der Inkas zu Tage gebracht. Coricancha, der „goldene Hof“ ist der perfekteste und prachtvollste aller Inka-Bauten. In einer sechs Meter hohen und runden Mauer passen die Steine so millimetergenau, dass sie jedes Erdbeben ohne Schaden überstanden haben. Hier pflegten die Adelsfamilien die Mumien früherer Herrscher. Alle Wände waren mit purem Gold verkleidet, denn nach dem Glauben der Inkas war das Gold die von der Sonne geweinte Tränen. Nun haben die Dominikaner weitere Ausgrabungen verboten. „Die Kirche ist sehr mächtig in Peru“, sagt Maria. Nur wenige Kilometer außerhalb liegen die Ruinen von Sacsayhuaman, die zum UNESCO Weltkulturerbe gehören. Pachutec ließ Cusco in der Form eines gigantischen Pumas anlegen, dabei ist Sacsayhuaman der Kopf, die Stadt soll den Körper bilden und der Fluss Huatanay den Schwanz. Zu sehen sind heute nur zwanzig Prozent dieser bedeutenden Kultstätte, die Spanier hatten die Steine für ihre eigenen Häuser weggeschleppt. In den Mauerresten findet am 24. Juni, zur Wintersonnenwende, die schönste Veranstaltung der Cusqueños statt, das Sonnenfest Inti Raymi. Ein farbenprächtiges Spektakel aus Inka-Darstellern, die am frühen Morgen die Sonne begrüßen. Für Maria ist der Ostermontag viel aufregender. Da wird die Heiligenfigur El Senor de los Temblores verehrt und die Statue wird von Polizisten getragen. „Da kommen viele Frauen nach Cusco“, erzählt sie, um die schönsten Männer des Altiplano zu sehen. Auch der Mann von Maria ist Polizist.
Mittlerweile ist es dunkel geworden und es wird empfindlich kalt. Die Plaza de Armas hat ihre Laternen angezündet. Schon während des Tages verbreiten die Arkaden viel kolonialen Charme, aber am Abend ist es schlicht zauberhaft. Zahllose Lokale liegen rund um das Herz Cuscos und jede Nacht ist hier der Teufel los. In seinem Buch „cazador de gringas“ beschreibt der Cusqueño Mario Guevara Paredes die Jagd der „andean lovers“ auf die Touristinnen aus Europa und den USA. Zu hunderten kommen sie, denn viele wollen in der Atmosphäre dieser alten Kultur die spanische Sprache lernen und sich amüsieren. „Sie suchen Zärtlichkeit “, schreibt der Schriftsteller, und die Einheimischen seien feurige und einfühlsame Liebhaber. Und am Ende einer Liaison liegt vielleicht ein Flugticket in ihre Heimat.
Um neun Uhr morgens startet der Zug Hiram Bingham zum Machu Picchu. Es ist die bequemste und teuerste Art, um die legendäre Inka-Stadt zu sehen. Schon leicht beseelt vom Champagner tuckert die Landschaft vorbei, die Gleise folgen dem „heiligen Tal der Inkas“, entlang dem Urubamba -Fluss. Ein äußerst fruchtbares Tal, das auf knapp 3000 Metern Höhe liegt. Vorbei an Feldern mit Kartoffeln, Quinoa, Bohnen und hinter dem Ort Ollantaytambo ändert sich das Bild. Plötzlich wird das Tal sehr eng, an den Hängen breitet sich eine tropische Vegetation aus, Orchideenblüten sind zu sehen. Die Fahrt endet im hässliche Agua Calientes, noch 20 Minuten im Bus und man sieht man die Ruinen der so bekannten und so geheimnisvollen Inka-Stadt am Machu Picchu. Wie bei den Maoris auf der Osterinsel, gibt es tausend Fragen und keine Antwort. Schon längst waren die Häuser verlassen, als die Konquistadoren kamen. Und so vom Urwald überwuchert, dass die Spanier sie gar nicht gesehen haben. Erst der Amerikaner Hiram Bingham ist 1911 dem Hinweis eines Einheimischen gefolgt und die Ruinen entdeckt. Einen eigenartigen Zauber strahlt diese Stadt aus, inmitten einer faszinierenden Berglandschaft. Und immer liegen Nebelschwaden über den Steingebilden. Als wollten sie noch geheimnisvoller erscheinen. „Ich war unzählige Male hier“, sagt Maria, „aber vom Machu Picchu bekomme ich nie genug“.
Sieben Stunden dauert die Autofahrt von Cusco zum Titicaca-See. Eine Straße, die zum Horizont reicht. Eine einsame Landschaft aus graubrauner Krümelerde, wo nur ein paar knorrige Büsche und das Ichu-Gras überleben, ständig gesaust von der scharfen Luft des altiplano. Den wenigen Menschen und ihren Eseln ist das harte Dasein auf 4000 Metern anzusehen. „Hier musst du geboren sein, um zu leben“, sagt Katia. Und ohne den berühmten See und die Grenze zu Bolivien wäre diese Gegend noch verlassener. So treffen sich Touristen, Händler und Schmuggler in Puno, der Stadt am Titicaca-See.
Dreizehn Mal größer als der Bodensee soll er sein und dreihundert Meter tief, aber das ist keine Erklärung für die Faszination des Titicaca-Sees. Es ist unglaublich klare, fast durchsichtige Luft, die über der Wasserfläche liegt und dieser Gegend etwas Unergründliches verleiht. Die Größe, die Weite, die erst an den Kordilleren enden, die schon zu Bolivien gehören. Der Sonnenaufgang um fünf Uhr morgens bringt den See zum Glühen, nur eine Stunde lang, dann schieben sich die ersten Wolken vor das Schauspiel. Genug grandiose Natur, Sehnsucht nach Unaufgeregtheit, zwei Tage Ausruhen nach so vielen Eindrücken. Wie an der Pazifikküste bei Mancora, dem Surfparadies Perus. Ein Stelldichein der Wellenreiter aus aller Welt, denen es in Hawaii zu langweilig geworden ist. Heller Sand, die weißen Schaumkronen des Pazifiks, der seine Wogen gegen den Strand donnert. Die Seele baumeln lassen. Ein Pisco Sour hilft dabei. Peru kann viele Wünsche erfüllen.
Dagmar Kluthe
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Fotos: Dagmar Kluthe / ComCenter South America