Übermütig tollt Sarah im Schnee auf der Riffelalp herum. Nur widerwillig lässt sich die junge Bernhardinerhündin das Fäßchen um den Hals schnallen, um mal wieder für ein Foto zu posieren: wuscheliger Lebensretter mit lachendem Tourist. Doch kurz nach dem Klicken der Kamera saust Sarah wieder davon und animiert den Fotografen Henk zum Spielen. Der Holländer ist eigentlich Surflehrer, doch den Winter jobt er in Zermatt, weil ihm das mondäne Leben dieses Ortes gefällt. Schon nach wenigen Stunden kann man das Hunde-Bild im Fotoladen abholen, denn in Zermatt versteht man sich auf die Gäste. Doch sie kommen ohnehin von alleine, denn die weltbekannte Silhouette des Matterhorns möchten alle sehen. So drängeln sich Zuschauer, Fotografen und Stative bei einsetzender Dämmerung auf der Dorfbrücke, alle haben diese Pyramide im Visier. Obwohl dieser Berg inmitten von 29 anderen Viertausendern liegt, strahlen seine 4478 Metern seit Urzeiten eine unfaßbare Faszination aus.
Mit der dramatischen Bezwingung des zweithöchsten Berges der Schweiz hat der Tourismus nach Zermatt begonnen. Am 14. Juli 1865 erreichte der Engländer Edward Whimper den Gipfel des Matterhorns, nur wenige Stunden vor dem Italiener Antoine Carrel, der von Breuil-Cervinia aufgestiegen war. Doch die Tragödie eines gerissenen Seiles und den tödlichen Absturz dreier Bergkameraden Whimpers verklärte diesen Berg ins Mythische. Das Matterhorn wird zur Attraktion und seit über hundert Jahren ist der weiße Riese das Ziel unzähliger Besucher aus aller Welt. 1891 eröffnete man den Zugverkehr zwischen Zermatt und Visp, vierzig Jahre später fuhr dann die Zahnradbahn bis nach Brig und war an den internationalen Strecken angeschlossen. Heute kommen jedes Jahr rund 1,5 Millionen Touristen in das Walliser Bergdorf, es gibt fast 120 Hotels und gut 1500 Ferienwohnungen. Während sich in den meisten Tourismusorten außerhalb der Saison die große Langeweile breit macht, flanieren in Zermatt immer die Besucher durch die Straßen. Von einem heimeligen Dorf kann niemand mehr sprechen, 4500 Einwohner leben hier und jeder Winkel im Tal ist genutzt, lassen sich doch mit jedem Quadratmeter viele Franken verdienen. Während andere Ferienorte mit Marketing und attraktiven Angeboten wetteifern, möchte kein Besucher auf Zermatt verzichten. Dabei gestaltet sich die Anreise eher beschwerlich, denn in diesem Ort sind Autos nicht erlaubt. Spätestens in Täsch müssen die Louis Vuitton-Taschen, Pelzmäntel und Skiausrüstung in die Eisenbahnwaggons gehievt werden. Einzig die Einheimischen haben eine Genehmigung für einen Parkplatz am Rand des noblen Skiortes.
„Seit zwanzig Jahren fahren wir nach Zermatt,“ meint eine Dame aus Düsseldorf, hier sei mit der Zeit eine Art große Familie entstanden, man träfe seine Freunde und wäre unter sich. Freilich, die Kreditkarte in Gold oder Platin gehört zur Norm, denn Zermatt ist teuer.
Eher ernüchternd präsentiert sich die Ankunft in den Renommierort. Ein äußerst schlichter Bahnhof und davor ein riesiger schmuckloser Vorplatz, über dem der Geruch von Pferdeäpfeln liegt. Doch keine der Kutschen ist zu sehen, statt dessen nerven die unzähligen Elektrobusse mit ihrem Gebimmel, die sich ihren Weg durch die Spaziergänger suchen.
Hauptader des geschäftigen Ortes ist die Bahnhofsstraße mit ihren Modeboutiquen, Juwelierläden und Sportgeschäften. Und mittendrin das obligatorische Schweizer Gasthaus „Walliser Kanne“ mit ihrem prägnanten Geruch nach Käsefondue und Raclette.
245 Pistenkilometer warten auf dem Rücken des gewaltigen Massivs der Monte Rosa. Doch so mancher Skifahrer nutzt die weiten Hänge eigentlich nur, um von einem Restaurant zum nächsten zu gelangen. Denn diese Region ist bekannt für die gastronomische Qualität ihrer Berghütten und als die pure Verführung entpuppen sich die Speisekarten. Dann verlangt es schon einen starken Sportsgeist, um sich nicht gemütlich hinzusetzen und den dynamischen Skitag eher zu vernachlässigen. Ein trutziges Berghaus ist die Fluhalp, die ihre Gäste mit gegrillten Krebsschwänzen lockt und dazu trinkt man eine Flasche roten Dole oder weißen Fendant aus den Weinbergen des Wallis. Ungeheuer nobel ist das „Chez Vrony“ im Weiler Findelen, wo mit Kristallgläsern und gestärkte Servietten eingedeckt ist und Ende März der grüne Spargel aus Chile zum Tip der Tages gehört.
Eher deftig ißt man in der „Chämi-Hitta“, der Wirt René Biner hat sich auf Wild und Walliser Kost spezialisiert. Schwingt man über die Hänge des Riffelberges ins Tal hinunter, ist das „Restaurant zum See“ nicht zu verfehlen.
Hier bietet das Würzburger Ehepaar Greti und Max Mennig seit Jahren eine formidable Küche. Warm scheint einem die Sonne auf den Rücken, wenn man vor der Hütte die Fischsuppe à la Provencale genießt, verlangt das Lammcarrée schon eine snobistische Einstellung zum Skifahren. Und zum Abschluß des Essens kommt noch der berühmte „Café Fertig“, dessen Mischung aus Koffein und Schnaps immer das Geheimnis des Hauses ist. Dann fehlt noch der Einkehrschwung ins Bergrestaurant Blatten für ein Glas „Roten“. Hier ist es am späten Nachmittag so voll, dass sich die Gäste nur mehr schiebend bewegen. Nun sind es noch wenige Schwünge hinunter ins Tal, wo sich die meisten gleich zum Abendessen verabreden.
Zermatt ist ein Mekka der etablierten Deutschen und die meisten bleiben auch auf dieser Seite des Matterhorns. Nur wagen sich hinüber ins Italienische, hinunter nach Breuil-Cervinia. Dabei sind die Hänge nicht weniger schön, allerdings hat man sich mit den Berghütten und ihrer Gastronomie nicht so viel Mühe gegeben. Doch für viele ist die andere Sprache ein Hindernis und man bemängelt, dass diese Abfahrten nicht im Skipaß enthalten sind. Doch allzu oft macht einem die Natur die Entscheidung leicht. Wenn die Stürme am Kleinen Matterhorn toben, kann die Gondel tagelang nicht hinauffahren. Als würde der Berg über diese Grenze wachen.
Doch in diesem satten Tourismusort Zermatt regen sich auch Quergeister. Der 39jährige Künstler und Autodidakt Heinz Julen ist einer von ihnen. Aus seinem Elternhaus, das mitten im Dorf steht, hat der 39jährige Künstler und Autodidakt mit „Vernissage“ einen Komplex aus Galerie, Kino, Theatersaal und Bar geschaffen. Auch die Inneneinrichtung, eine Verbindung aus Glas, altem Holz und Metall, hat er selbst entworfen und gibt diesen Räumen eine ungewohnt eigenständige Atmosphäre. Mit seinem Appartementhaus hat der Zermatter gewagt, neue Wege eingeschlagen. Weg vom erdrückenden alpinen Barock mit seinen dunklen Hölzern, hin zu hellen, klaren Zimmern. Und von vielen Fenstern aus ist das Matterhorn zu sehen. Auf diesen Berg möchte in Zermatt niemand verzichten.
Dagmar Kluthe
© Fotos: Dagmar Kluthe